Vor fünf Jahren habe ich damit begonnen, den Balkan zu bereisen. Ein bisher unbekannter Teil Europas für mich, den wollte ich näher kennenlernen. Nun hatte ich eine Wanderreise nach Bosnien-Herzegowina gebucht. Aus der Stadtbibliothek habe ich mir einen Reiseführer ausgeliehen – es gab nur einen. In dem Reiseführer steht, dass vereinzelt in den Bergen immer noch Minengefahr besteht und man unbedingt auf den markierten Wegen bleiben sollte. Daran hatte ich bis jetzt nicht gedacht. Ja, der Bosnienkrieg. Unter diesem Begriff versteht man den Krieg in Bosnien und Herzegowina von 1992 bis 1995 im Rahmen der Jugoslawienkriege. Sofort fällt mir Srebrenica ein, das Massaker an 8.000 Muslimen und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft. Ich leihe mir zwei weitere Bücher aus, die sich mit den damaligen Geschehnissen beschäftigen.
Dann, Anfang Juni, komme ich nach Trebinje, ca. 40 km von Dubrovnik entfernt. Vor Ort lernen wir Sinija kennen, unseren ersten Wanderführer in Bjela Gora, dem weißen Gebirge. Bijela Gora ist ein 90 km² großes Hochplateau im Orjen-Gebirge im Grenzgebiet von Montenegro zu Bosnien und Herzegowina. Es liegt auf einer Höhe von 1200 bis 1500 m über dem Meeresspiegel. Sinija führt uns über blühende Gebirgswiesen, erklärt uns die lokale Tierwelt und hat eine Hütte im weißen Gebirge, in der er für uns kocht, große Portionen. Wir sind nur zu sechst, Sinija kocht für eine ganze Armee. Später werden die Ziegen vom Nachbarbauern den Rest des Festmahls erhalten. Sinija hat in drei verschiedenen Armeen gedient: der Jugoslawischen Armee, der Bosnischen Armee und zuletzt in der Amerikanischen Armee, für die er 2,5 Jahr im Irak stationiert war: „When we came there, we knew why nobody from the Americans wanted to do the job.“ Sein nüchternen Kommentar über zwei erlebte Kriege lautet: „It is all about money.“ Jetzt arbeitet Sinija als Fahrer bei einer Elektrizitätsfirma und führt ab und zu Touristen durch Bjela Gora.
Unser Reisebegleiter Adis, 29 Jahre alt und aus Sarajevo, ist während des Krieges mit seiner nach Deutschland geflüchtet, irgendwo in den Ruhrpott. Dort hat er hervorragend Deutsch gelernt. Seine Sprachkenntnisse hat er nach der Rückkehr in seine Heimat in der Schule weiter ausgebaut – hier gab es ein spezielles Rückkehrerprogramm, irgendwie vom Ausland finanziert. Das wusste ich nicht. Ich finde die Idee gut und frage mich, warum man es mit den jetzigen Flüchtlingen in Deutschland nicht genauso macht. Sie die Sprache lernen lässt und ihnen somit sowohl eine Verbindung zum Gastland als auch eine Zukunftsperspektive für ihre Rückkehr nach dem Krieg gibt?
Adis arbeitet im Sommer als Fremdenführer, im Winter ist er auf einem Kreuzfahrtschiff als Masseur tätig. Er hat schon viel von der Welt gesehen, z.B. Südafrika oder Indien. Seine Einkünfte spart er für den Bau eines Hauses in Sarajevo. Ein Jahr will er noch weiter zur See fahren und dann in Sarajevo sesshaft werden. Inshah‘ allah. Auch Benjamin unser Wanderführer im Sutjeska Nationalpark und später in den Olympischen Bergen von Sarajevo, ist während des Krieges nach Deutschland gekommen. Auch er spricht gut deutsch. Kurz und knapp erzählt er von der dramatischen Flucht seiner Familie nach Deutschland. Ich habe großen Respekt vor der Leistung der drei „Jungs“. Keiner der drei scheint weder seinen Mut noch seinen Humor verloren zu haben. Sie haben sich den Umständen angepasst, sie haben sich ihre Nischen im Leben gesucht und vielleicht den Krieg hinter sich gelassen. Männer mit Nerven wie Drahtseile. Bosnische Bären, so nennen sich die Bosnier selbst.
In den Gesprächen fällt mir ihre Verehrung für den ehemaligen Jugoslawischen Staatschef Tito bzw. Tito’s Jugoslawien auf, die sie jeweils unabhängig voneinander äußern. Unter Tito sei Jugoslawien stark und unabhängig gewesen. Man wäre weder zum Westen noch vom Osten abhängig gewesen. Ohne ein Visum zu beantragen hätte man überall hinreisen können – und wer sei man jetzt?
Als wir nach Sarajevo kommen besuchen wir den ehemaligen Versorgungstunnel am Flughafen von Sarajevo, den Tunnel der Hoffnung, wie er offiziell heißt. Die Bilder und Reliquien des Krieges sind beklemmend. Ich bekomme eine Ahnung davon, was es heißt, ganze vier Jahre in einer belagerten Stadt zu leben, die aus den Bergen von Serben mit Präzisionsgewehren beschossen wird. Mit dem Bus fahren wir auch die ehemalige Sniper-Alley entlang. Zu begreifen ist der Wahnsinn nicht, man kann ihn nur zur Kenntnis nehmen – in Ansätzen.
Sowohl in Sarajevo als auch in Mostar finden sich in Einschusslöchern an teilweise kaputten Häusern noch Spuren des Krieges – von den zahlreichen Friedhöfen ganz zu schweigen. Während der Reise habe ich nicht nur eine wunderschöne Natur, leckeres Essen und Gastfreundschaft kennengelernt sondern auch einen Einblick darin bekommen, was Krieg für das Schicksale eines Einzelnen bedeuten kann. Ich wünsche den Bosniern als auch allen anderen Menschen, dass solche Bilder und Erinnerungen endgültig der Vergangenheit angehören mögen.