Zwei Schwestern
Freiwillig dorthin gehen, wo Krieg, Tod und Gewalt herrscht? Wer macht so etwas und warum? Diese Frage steht spätestens seit 2011 auf der Agenda vieler Psychologen und Soziologen. Und nicht nur diese Professionen beschäftigen sich mit dem Phänomen, auch viele Eltern, Verwandte und Freunde müssen das tun. Seit der „Arabische Frühling“ im Dezember 2010 in Tunesien seinen Anfang nahm hat man immer wieder in den Medien über junge Menschen gehört, die sich freiwillig für den Kriegsdienst in Syrien gemeldet haben. Männer, die für den IS (den Islamischen Staat) in den bewaffneten Konflikt ziehen und junge Mädchen oder Frauen, die sich als Gattinnen für die mutigen Krieger zur Verfügung stellen. Im Oktober 2013 tun dies auch zwei Schwestern somalischer Herkunft, die aus Norwegen freiwillig nach Syrien gehen. Das Buch „Zwei Schwestern“ von Asne Seierstad erzählt nicht nur ihre Geschichte, sondern auch die ihrer Eltern und ihres Bruders Ismael. Eine sehr bewegende Lektüre, die nicht den Anspruch hat, einfache Antworten auf schwierige Fragen zu geben. Vielmehr liefert Seierstad eine akribisch aufgearbeitete Dokumentation aus der Sicht der Familie und der Schulkameraden gespickt mit SMS-Konversationen zwischen den Eltern, dem Bruder und den Schwestern. Prädikat: Besonders wertvoll für alle, die sich jenseits der üblichen Stereotype mit dem Thema der Fremdkämpfer für den IS auseinandersetzen möchten.
Wie alles beginnt
Alles beginnt damit, dass eine der beiden Schwestern in 2010 zu einem Vortragsabend der Organisation Islam Net geht. Aus einem Abend wird eine ganze Vortragsreihe. Anfangs sind auch ihre Freundinnen dabei – das ganze ist cool, besonders die vortragenden Jungs. Dann geht alles recht schnell, die beiden Mädchen geraten immer tiefer in den Strudel aus Abenteuer, Zugehörigkeitsgefühl, Anerkennung, Romantik und Rebellion. „In etwas Größerem aufgehen“, das verspricht der IS, davon träumen die Mädchen, die sich in der norwegischen Gesellschaft nicht immer als verstanden und zugehörig empfinden.
Die beiden radikalisieren sich in ihren Ansichten und Gebaren zuhends, indem sie sich von den Werten der norwegischen Gesellschaft lossagen und sich ganz ihrem Ziel, dem Leben in einem islamischen Staat, verschreiben. Seierstadt zeichnet in ihrem Buch die langsame aber sichere Verwandlung der beiden Schwestern nach. Zuerst ungläubig, dann wütend und zuletzt hilflos steht die Familie dem Treiben der beiden Mädchen gegenüber.
Ausreise im Oktober 2013
Leila und Ayan, so heißen die beiden Schwestern, sind von ihrem Vorhaben nicht abzubringen. Im Hintergrund haben sie ihre Ausreise im Oktober 2013, zunächst in die Türkei und vor dort nach Syrien, vorbereitet. Fassungslos steht die Familie den Geschehnissen gegenüber. Kurze Zeit später reist der Vater, Sadiq, seinen Töchtern nach. Sein Versuch, die beiden zurückzuholen scheitert schließlich auch daran, dass weder Leila noch Ayan zurück wollen. Sie sind ja da, wo sie hinwollten. Längst hat die ältere von beiden geheiratet; für die jüngere wird gerade ein passender Mann gesucht. Neben den psychischen Qualen, die der Vater erleiden muss kommt die Folter durch den IS dazu, die Sadiq gefangen nimmt und einsperrt, ja beinahe tötet. Aber auch dieses grausame Ereignis kann die Meinung der beiden Schwestern nicht umstimmen, obwohl Ismael ihnen davon erzählt.
Was wirklich passiert
Das Buch „Zwei Schwestern“ ist nicht nur wegen der eigentlichen Familiengeschichte lesenswert. Es sind auch die Hintergründe, zum Wirken des IS in Syrien einerseits und den machtpolitischen Hintrgründen der Weltgemeinschaft andererseits, die immer wieder aufscheinen und das Buch insgesamt sehr spannend machen.
Die erschütterndste Schilderung des Buches ist für mich der kurze Bericht über die Hinrichtung einer amerikanischen Geisel durch den IS. In einem Brief an seine Eltern schreibt der junge Mann: „Hab keine Angst, Papa, falls ich sterben muss, werde ich einfach an etwas denken, was ich ganz sicher weiß. Dass du und Mama mich mehr liebt als den Mond & die Sterne.“ Einerseits ist der junge Amerikaner um die Gewissheit der Liebe seiner Eltern zu beneiden. Andererseits haben diese beiden Sätze so viel Kraft, dass die Autorin dem Zitat nichts weiter hinzufügen muss, um deutlich zu machen, wie unmenschlich das Agieren des IS ist.
Die westliche Perspektive
Es ist vermutlich unvermeidlich, muss aber dennoch erwähnt werden: Seierstad verfasst ihre Bestandsaufnahme aus einer westlichen Perspektive, die ein westliches Werteverständnis vertritt. Zwar kommen die Gedankengänge der beiden Schwestern immer wieder im Original zur Geltung, diese klingen aber doch sehr stereotyp und erlernt – was sie vielleicht auch sind. Mir als westlich erzogene Frau ist es natürlich völlig unverständlich, wie sich zwei junge Mädchen freiwillig in ein selbstgewähltes patriarchalisch dominiertes Gefängnis begeben können, obwohl ich selbst viel im arabischen Raum unterwegs war. Aber das ist es vielleicht gerade, die Faszination des Unverständlichen: „Jedes Mal, wenn eine Frau aus dem Haus geht, folgt ihr der Teufel …“, heißt es da im „IS-Sprech“ zum Beispiel.
Auch zur westlichen Perspektive gehört für mich allerdings der – zumindest verwirrende, wenn nicht abstoßende Umstand -, dass Sadiq seine Reisen in die Türkei mit Enthauptungsvideos und Nachrichten über norwegische IS-Kämpfer finanziert, die ihm von den Medien sehr gerne abgekauft werden.
Weiterhin heißt es: „Alle Staaten versuchten, Kontakt in Syrien zu knüpfen. Die Amerikaner, die Briten, die Russen, arabische Staaten.“ Und wer leidet wirklich? Das sind der durchschnittliche „Ahmet K.“ und „Osman S.“, Syrer, die sowohl unter dem IS als auch unter den machtpolitischen Interessen der westlichen und östlichen Mächte Qualen erleben und für die sich niemand interessiert: „Russland wollte der Welt nur zwei Möglichkeiten lassen: Assad oder der IS.
L’Enfer, c’est les autres.
Alle Versuche, die Mädchen zur Rückkehr nach Norwegen zu bewegen, enden im Nichts. Fast führen sie sogar dazu, dass die somalische Familie auseinanderbricht. Währenddessen geht der Krieg in Syrien weiter. Die Situation vor Ort wird für die Bevölkerung immer schwieriger, auch für den IS, der immer mehr unter internationalen Druck gerät. Was aus den beiden Schwestern wird, ob sie noch leben oder dem Bombardement zum Opfer gefallen sind, wir erfahren es nicht.
„Be willing to walk alone. Many who startet with you, won’t finish with you.“