Lesung: Mit Büssing und Spiegelberg unterwegs
Eine der schönsten Arten den Sonntagnachmittag zu verbringen ist es, einer Lesung zu lauschen. Und genau das habe ich an diesem letzten Tag der Woche getan. Eingeladen hat das Café Spunk am westlichen Ringgleis. Dr. Lutz Tantow erfreut das Zuschauerherz mit zwei spannenden Geschichten aus dem Format „Industriekultur literarisch“, nämlich die Erzählungen „Mit Büssing und Spiegelberg unterwegs“. Ich hätte nicht gedacht, dass Industriegeschichte so spannend, unterhaltsam und gleichzeitig entspannend sein kann.
Julius Spiegelberg, der Flachs- und Jutekönig
Ich gebe es offen zu, bis gestern ist mir der Name Julius Spiegelberg kein Begriff gewesen. Als begeisterte Wanderung muss ich zudem sagen, dass ich die Art, wie Tantow seine „Industriehelden“ präsentiert sehr gelungen und charmant finde. Er begleitet sie auf Spaziergängen, die eher Wanderungen sind, die den Spuren der jeweiligen Personen folgen. Dabei erzählt er seine Geschichten in imaginierten Dialogen mit den Industriellen, die spannend und unterhaltsam sind. Als „literarische Streifzüge durch das Braunschweiger Land“, so bezeichnet der Autor seine Darstellungsform.
Los geht es mit der Geschichte um den Industriellen Julius Spiegelberg. Spiegelberg wurde 1833 in Peine geboren. Über seine frühen (Auslands-)Reisen, die er für seinen Vater unternimmt, ebenfalls ein Geschäftsmann, kam er früh mit der Werg- und Jutespinnerei in Berührung. Dieser Industriezweig hat ihn so nachhaltig geprägt, dass er diesen in Form von zwei Werken (Vechelde und Braunschweig) erstmalig nach Deutschland holte. Um 1900, so weiß Tantow zu berichten, haben ca. 2000 Menschen in Braunschweig in dieser Branche beschäftigt.
Die Unternehmer Schmalenbach und Streiff seien wohl die bekannteren Persönlichkeiten. Aber gerade deshalb macht es Sinn, sich einmal mit Julius Spiegelberg zu beschäftigen. Eine Frage diesbezüglich an das Lesungs-Publikum bestätigt diese Annahme. In der Spinnerstraße, im Viertel Eichtal, dass im westlichen Ringgebiet liegt, hatte Spiegelbach seine Fabrik stehen. „Heute“, so erzählt es Tantow, „soll dort eine Luxus-Wohngegend entstehen.“
Wie der Madamenweg seinen Namen erhielt
In einem Seitenstrang lässt Tantow eine erheiternde Anekdote in seine Geschichte einfließen. Es geht um keinen geringeren als den Herzog Rudolf August, der Jägermeister unter den deutschen Herzögen und ein ausgemachter Schürzenjäger, so weiß Tantow zu berichten. Seine zweite Gemahlin wurde kurz Rudolfine genannt und da Madame so oft über eine Straße im westlichen Ringgebiet flanierte, wurde diese im Volksmund nur noch Madamenweg genannt.
Zurück zu Spiegelberg: Mit 24 Jahren gründet dieser seine erste Firma in Vechelde. 1861 gründet er eine Spinnerei, die erste in ganz Deutschland. 1866 firmiert er sein Unternehmen in eine Aktiengesellschaft nach englischem Vorbild um, es entsteht die Jute- und Flachsindustrie (British Continental Flach’s work). 1887 reist der Industrielle nach Indien, um sich dort für sein Unternehmen neue Anregungen zu holen. Aus Galizien und Böhmen holt sich Spiegelberg die ersten Gastarbeiter überhaupt. Er setzt sich für verbesserte Arbeitsbedingungen ein. Staubige Industriearbeit wird zu der Zeit meistens von Frauen erledigt. 1890 zieht der Firmengründer nach Hamburg und später nach London. 1926 wird sein Betrieb in Vechelde stillgelegt und unter den Nazis in ein Konzentrationslager umgewandelt.
Der Schmiedesohn Büssing
In Tantow’s zweiter Geschichte geht es um Braunschweigs bekannten Sohn Heinrich Büssing, der zu Lebzeiten nicht weniger als 250 Patente angemeldet hat. Vor den Toren Wolfsburgs, so beginnt Tantow seine Erzählung, besser gesagt in Nordsteimke nimmt die Erfolgsgeschichte rund um den deutschen Erfinder und Unternehmer ihren Ausgangspunkt. Tantow macht sich gemeinsam mit Büssing von dort auf den Weg nach Braunschweig. Es geht den Wassermühlenweg in Heiligendorf entlang. Büssing ist damals Schmiedelehrling und 17 Jahre alt. Weiter geht es durch den Barnsdorfer Forst in das Wolfsburger Quellengebiet. Ein Weg der heute, so Tantow, sowohl von den Palästen der VW-Bonzen als auch von der Autobahn versperrt ist. Ich staune, immerhin sind es von Nordsteimke bis Braunschweig gute 30 Kilometer. Die will Büssing doch nicht täglich zurückgelegt haben oder?
Tantow schließt seine Lesung an diesem Tag mit einem Cliffhanger. Er setzt eine Geschichte über Werner Siemens an, der einst am Benther Berg zuhause war. Dieses Domizil musste die Familie Siemens allerdings aufgeben, weil der Vater sich gegen die damaligen Jagdgelüste hochrangiger Personen stellte. Der Klan zog nach Mecklenburg-Vorpommern. Mehr erfahren wir an diesem Sonntagnachmittag nicht. Aber vielleicht ist heute ja nicht alle Tage und Tantow kommt wieder – keine Frage?