Ringgleis-Geschichten: Aus Liebeskummer von der Bahnbrücke gestürzt
Auch das Ringgleis hat seine Geschichte. An diesem Sonnabend wird sie „anders“ erzählt. Hans-W. Fechtel, seines Zeichens Diplom Ingenieur, berichtet mit Unterstützung von Wolfgang Henschel, dem ehemaligen Leiter von Braunschweigs Westbahnhof, über die wechselvolle Geschichte der Braunschweiger Bahn. Als Teil der Braunschweiger Spaziergänge 2023 unter der Schirmherrschaft des Arbeitskreises für andere Geschichte e.V. wird diese Führung angeboten.
Führung mit Sidekick
Trotz der großen Hitze an diesem Tag haben sich einige Interessierte an der Borsigstraße, Ecke Schwarzkopfstraße, eingefunden. Isolde Saalmann als Vertreterin des Arbeitskreises für andere Geschichte führt in die Thematik des heutigen Spaziergangs ein: Reichsbahn-Ausbesserungswerk, Lokpark und Rangierbahnhof. Zugegeben, darunter kann ich mir erst einmal nichts vorstellen. Ich lasse mich aber gerne überraschen. Saalmann ergänzt, dass dies bereits der vierte Spaziergang auf dem Ringgleis sei. Als Experten habe man auch diesmal wieder Hans-W. Fechtel gewinnen können. Und wie ein Blick in das Internet zeigt, scheint Fechtel ein wahrer Tausendsassa zu sein. Gut, dann bin ich mal gespannt.
Tatsächlich hat sich Fechtel an diesem Nachmittag Verstärkung bestellt. Einen „Sidekick“ nennt er das. In Person von Wolfgang Henschel tritt ein lebendes Bahnlexikon an seine Seite. Wir stehen, natürlich im Schatten, auf dem Vorplatz zum ehemaligen Reichs-Ausbesserungswerk. Fechtel klappt eine riesige Karte auf, die das Ringgleis zeigt. Alle vier Ecken dieser Strecke haben eine Bezeichnung erhalten. Der südliche Teil, an dem wir uns heute befinden, wird auch das Bahngleis genannt. Als nächstes hält er einen Plan in den Händen. Dieser zeigt das Eisenbahnnetz von 1904. Wir gehen aber noch weiter zurück in der Geschichte. Nämlich in das Jahr 1838. Die deutsche Staatsbahn nimmt ihren Betrieb auf, und zwar mit einem englischen Lokführer. Es gab nämlich keine deutschen. Auch die Lokomotiven kommen zu dem Zeitpunkt noch aus England. Der sogenannte Ottmerbau war das Zuhause des einstigen Sackbahnhofs. Leider lässt sich von dem damaligen Glanz im aktuellen Bahnhofsgebäude nichts wiedererkennen.
Von Braunschweig nach Neustadt
Die ersten Fahrstrecken führten zum Beispiel nach Neustadt. „Neustadt wo?“ frage ich mich, etwa am Rübenberge. Nein, lässt uns Fechtel wissen. Tatsächlich hieß Bad Harzburg früher Neustadt. Da Braunschweig strategisch günstig an der Magistrale von Köln nach Berlin gelegen war, kam schnell neue Verbindungen hinzu. Ab dem Jahr 1870 ging es in die Universitätsstadt Helmstedt und ab 1902 vom Nordbahnhof über Gliesmarode-West nach Fallersleben (Wolfsburg existierte damals noch nicht). Noch heute ist der alte Helmstedter Damm auf dem Harz und Heide-Gelände zu erkennen.
Bereits 1915 gibt es dann Pläne für den Bau eines neuen Braunschweiger Rangierbahnhofs. Dieser soll sechs Meter höher liegen als der alte Ostbahnhof. Nach dem 1. Weltkrieg beginnen die Bauarbeiten. Der neue Bau soll ein Gefällebahnhof werden und damit weniger Personalintensiv. Möglich ist das nur durch eine Aufschüttung mit Sand. Dieser kommt vom Lindberg und geht zum Kennelgebiet. Um die Arbeiter unterzubringen, entstand im Jahr 1927 die Lämmchenteich-Eisenbahner-Siedlung in der Nähe des heutigen Bebelhofs.
Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in dieser Zeit, verzögern sich die Arbeiten. Die neue Regierung will ab 1937 wirtschaftlich unabhängiger werden. Aus diesem Grund lässt sie in Salzgitter ein Stahlwerk der Extraklasse bauen. 20 Hochöfen stehen dort.
Ärger mit dem Lokpark
Wir gehen ein Stück in das Gelände herein. Rechter Hand steht die ehemalige Kantine des Ausbesserungswerks. Für heutige Verhältnisse ein Prachtbau. Zuletzt war hier das Panoramic Tanzcafé untergebracht, heute beherbergt das Gebäude ein Veranstaltungshaus. Geradeaus steuern wir auf das ehemalige Pförtnerhaus zu. Das dürfte heuer in Privatbesitz sein. Wir gehen weiter auf dem Areal des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerk und kommen nun zum Kernstück: der Lokrichthalle. Sie wurde im Jahre 1924 erbaut und steht heute unter Denkmalschutz. Bis 1976 war das Werk in Betrieb, dann endete die Ära der Dampfloks. Hier wurden ausschließlich Schnellzuglokomotiven repariert. Bei dem anschließenden Bauwerk handelt es sich um die Kesselschmiede. Heute hat der Westermann-Schulbuchverlag hier sein Lager.
Auf dem Gelände des heutigen Lokparks werfen wir noch einen Blick auf die ehemalige Dreh- und Verschiebebühne. Das allerdings nicht unentdeckt. Plötzlich starrt mich ein ärgerliches Augenpaar an und dann ist Isolde Saalmann kurz verschwunden. Als sie wieder auftaucht lässt sie uns wissen, dass die Handwerker von unserem unerwarteten Besuch nicht begeistert sind. Der Aufenthalt auf dem Gelände sei bei Schweißarbeiten zu gefährlich. Fechtel lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen und beendet seine Erläuterungen.
Zum Ende des Spaziergangs laufen wir ein kleines Stück zum ehemaligen Rangierbahnhof, dessen Bauarbeiten im Jahr 1927 begannen und wegen der schwierigen Wirtschaftslage zum Erliegen gekommen waren. Im Juli 1939 beginnen dann die Erdarbeiten der Baufirma Peter Büscher. Am 1.10.1943 erfolgte die offizielle Inbetriebnahme des Rangierbahnhofs.
Aus Liebeskummer von der Bahnbrücke gestürzt
Sidekick Wolfgang Henschel war früher Leiter des bedeutenden Braunschweiger Güterbahnhofs „Westbahnhof“ und Chef von 400 Leuten. Er kann sich noch gut an seine langen Arbeitstage erinnern, besonders dann, wenn er seine Runde über den Bahnhof drehte und mit den Mitarbeitern sprach. „An diesen Tagen“, so sagt er uns, „habe ich meiner Frau gesagt, dass ich später kommen werde.“ Er sei dafür bekannt gewesen, so ergänzt er, dass er sich für die Sorgen und Nöte seiner Angestellten Zeit genommen hätte.
Zu guter Letzt hat er noch eine Anekdote parat, die wir aus einem Rosamunde-Pilcher-Film wirkt. Während seiner Tätigkeit sei einmal eine Frau von einer Eisenbahnbrücke gesprungen. Wie durch ein Wunder hat sie unverletzt überlebt. Wegen eines Streits mit ihrem Partner sei sie gesprungen. Anschließend seien die beiden aber wieder zusammengekommen. Getreu dem Motto: Ende gut, alles gut.