Buch-Rezension: „Alleiner kannst du gar nicht sein.“
Es klingt verlockend: Aufmerksamkeit und Anerkennung, Fahrdienst, Taschenträger, Zugang zu wichtigen Persönlichkeiten der Öffentlichkeit und die Gewissheit immer steigender Diäten. Diese Versuchungen stehen für die Anziehungskraft des Abgeordnetendasein im Deutschen Bundestag. Die Schattenseiten? Öffentliche Angreife in den sozialen Medien, durch die Presse und die eigene Partei. Entfremdung von der eigenen Familie durch lange Arbeitszeiten und außereheliche Affären. Und natürlich immer die Angst, den wertvollen MdB-Status zu verlieren. Macht Macht einsam? Diese und andere spannende Fragen rund um unsere Repräsentanten in Berlin beantwortet das Journalisten-Duo Peter Dausend und Horand Knaup in ihrem Buch: „Alleiner kannst du gar nicht sein“. Unsere Volksvertreter zwischen Macht, Sucht und Angst.
Die Identität eines Abgeordneten
Die Bundestagswahl im September 2021 steht an. Kann es einen besseren Zeitpunkt geben, um sich mit den bundespolitischen Strukturen und Machtverhältnissen unserer Republik auseinanderzusetzen? Während der Lektüre des Buches habe ich mich mehrmals gefragt, wer sich freiwillig den Politikwahnsinn in Berlin und in seinem Wahlbezirk antut? Wer ist der Typus „Abgeordneter“, der die Stimme des Volkes vertreten soll? Oder repräsentiert er in erster Linie sich selbst und seine Parteiinteressen?
Viel zu oft, so die Meinung der beiden Autoren, werden Abgeordnete mittlerweile von der Frage „Womit erreiche ich Aufmerksamkeit?“ getrieben. Längst spiegelt die Zusammensetzung des Bundestags die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr wider: zu wenig Frauen, zu wenig Migranten, zu wenig Arbeiter, zu wenig Vertreter unterschiedlicher Religion oder Ethnien. In den Köpfen der Abgeordneten regiert der „Sofortismus“: Reaktionsgeschwindigkeit und Selbstwahrnehmung werden durch Twitter und Co. vorgegeben. Der beste und wohl eindrücklichste Beleg für diese These kommt aus dem Ausland, vom ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten: Donald Trump.
Machtgebaren um jeden Preis
Dausend und Knaup haben ein interessantes und spannendes Buch zur Seelenlage des deutschen Abgeordneten vorgelegt, in dem sie Einblicke gewähren, die dem Normalbürger für gewöhnlich vorenthalten werden.
Um im politischen Leben ganz nach oben zu kommen gibt es eine einfache Regel: „Macht muss man nicht nur haben, man muss sie auch ausstrahlen.“ So hat es einer formuliert, der es wissen muss: der bayrische Ministerpräsident Markus Söder. Schwache, sensible und sozial-orientierte Menschen sind hier fehl am Platz. Egal, ob es um einen guten Listenplatz an der Wahlurne geht oder das eigene Fortkommen. Die zweite eiserne Regel lautet folgerichtig: auffallen, um jeden Preis, in der Partei, in den Bundestagsdebatten, im eigenen Wahlkreis.
Die Tonalität der Botschaften kommt von der Regierungsfraktion – Widerspruch zwecklos. Der Volksvertreter, so heißt es in dem Buch, soll in erster Linie dafür sorgen, dass Regierungsvorhaben einerseits nicht gestört werden und im Wahlkreis andererseits die Basis „bei der Stange bleibt“. „Wer aus der Reihe tanzt“, so dass die Zitat eines Abgeordneten, „kann seine Ambitionen an den Nagel hängen“.
Ein verlockendes Angebot
Und trotz allem übt das Abgeordnetenmandat einen ungeheuren Reiz aus. Für den Aufstieg wird auch fleißig an die Parteigenossen bezahlt: der Kreisverband, der Bezirk, die Landespartei und die Bundestagsfraktion – alle fordern ihren Tribut über sogenannte Zwangsspenden. Aber als Einzelkämpfer, so lernen wir aus der Lektüre, hat keiner eine wirkliche Perspektive. Jeder, die hier etwas werden will, ist auf Unterstützer, Weggefährten und Bündnisgenossen angewiesen. Jedenfalls so lange, wie die eigene Macht noch nicht zementiert ist. Hat man(n) es geschafft, können alte Freundschaften auch mal ganz schnell vergessen werden, wie das Beispiel von Norbert Röttgen zeigt: „Ehrgeiz“, so wird der CDU-Mann zitiert, „gehört zur Politik, weil Politik im Gestaltenwollen liegt“. So kann man es auch ausdrücken, wenn es um die eigene Karriere und das Wegdrängen von (Partei-)Freunden geht.
Denn allzu schnell und allzu oft stehen die Aufsteiger vor der Frage: „Was ist dir wichtiger: Freundschaft oder das, was du erreichen willst?“ Die Antwort für angehende und bleibende MdBs liegt auf der Hand.
Und ja, die Vorteile eines Abgeordnetendaseins sind einfach zu verlockend: Dienstwagen mit Chauffeur, einen eigenen Mitarbeiterstab, Mappe, Schirm und Mantel werden von anderen getragen oder zur Verfügung gestellt. Hier wird das eigenen Ego gepampert und zwar auf’s Beste. Das „Ich“ steht im Mittelpunkt bei Mitarbeitern, Saaldienern, Fahrern, Besuchergruppen, Medienleuten und Lobbyisten.
Bedenke, du bist nur ein Mensch
Der Wahlspruch, den Sklaven römischen Feldherrn bei Triumphzügen ins Ohr flüsterten, fällt mir spontan dazu ein: „Respice post te, hominem te esse memento„. Frei übersetzt: „Sieh dich um, denke daran, dass auch du nur ein Mensch bist.“
Oh ja, die psychologische Komponente des Abgeordnetendaseins ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Von einem latenten Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt ist hier die Rede. Mit diesem begibt sich der Repräsentant in die Abhängigkeitsfalle. Der Machtgewinn erhöht zunächst das Selbst des Betroffenen, allerdings kommt dann schnell die Minderwertigkeit und die Selbstunsicherheit, ob die gewonnene Macht auch gehalten und stabilisiert werden kann. Nur durch einen weiteren Machtzuwachs, so die Experten, könne die Angst unter Kontrolle gehalten werden. Schnell unterliegt der Wert des eigenem Selbst der Rolle des Abgeordneten. Um dem inneren Druck standhalten zu können würde nicht selten Zuflucht in Drogen, Alkohol oder Affären gesucht werden. Die größte und immerwährende Angst des MdB ist also der Verlust des Mandats.
Allein diese Offenbarungen machen das Buch von Dausend und Knaup lesenswert. Aber es gibt noch mehr Erkenntnisse und die bedienen alle Genre, die es braucht, um einen Text empfehlenswert und fesselnd zu machen. In den 17 Kapitel des Druckwerks geht es um (verlorene) Träume, Demütigungen, Ängste, Schuld, Gefallsucht, (Geschlechter-)Kämpfe, Erfolge, Niederlagen, Skandale und um das Auferstehen eines Wolfgang Schäuble nach einem tätlichen Angriff.
Viele Gründe also, wie ich meine, dieses Buch zur Hand zu nehmen.