Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht

Christina/ Februar 15, 2020/ Kultur

China – das Reich der Mitte. Aber was wissen wir eigentlich über das Land mit der weltweit größten Bevölkerung? Trotz der immer besseren Möglichkeiten, Nachrichten aus der ganzen Welt zu erhalten, ist es der Volksrepublik bisher gut gelungen, wenige Informationen nach außen dringen zu lassen.

Zumeist sind die Meldungen negativer Natur, die uns über China in den Medien zur Verfügung gestellt werden: Es geht um Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Bedrohung durch Plagiate und ein undurchsichtiges Herrschaftssystem. Im jüngsten Bericht von Human Rights Watch heißt es, China nutze das „übergriffigste öffentliche Überwachungssystem, das die Welt jemals gekannt hat.“ Zuletzt sorgte das Coronavirus für pessimistische Schlagzeilen.

Aber wie ticken die Menschen nun wirklich in dem Riesenreich? Was ist ihr kulturelles Erbe, wie viel sind unsere Vorurteile wert und auf was müssen wir uns künftig einstellen, wenn die Chinesen tatsächlich an den USA vorbeiziehen und die nächste globale Wirtschaftsmacht werden?

Den Schleier um so manches Geheimnis und manche falsche Vorstellung versucht das deutsch-chinesische Ehepaar Baron in seinem Buch „Die Chinesen. Psychogramm einer Weltmacht“ zu lüften. Entstanden ist ein über 400-seitiges Werk, das sich in drei Bereiche teilt und sowohl das private als auch das öffentliche Leben diese ostasiatischen Volks untersucht. Es beleuchtet ferner die geschichtliche und damit auch die kulturelle Entwicklung des Landes und gewährt somit Einblicke in das „Gewordensein“ der heutigen Bevölkerung.

Chinas Denkschulen
Prägende Denkschulen der Volksrepublik sind der Taoismus, der Legalismus, der Mohismus und der Konfuzianismus. Letztere Schule ist sicherlich im Westen die bekannteste. Dieser hält jeden Menschen dazu an, sich selbst weiter zu entwickeln und das Beste aus sich heraus zu holen. Harmonie, Bildung und Familienwerte stehen im Vordergrund. Chinesen betrachten das Leben als eine Art Pilgerreise mit dem Ziel der Selbstkultivierung. Das Gute im Menschen muss nach ihrer Überzeugung erst herausgebildet werden. Bildung und Erziehung haben so einen hohen Stellenwert.

Der chinesische Anspruch zur Selbstvervollkommnung kann dabei durchaus als hehres Ziel verstanden werden, wäre da nicht der „Große Sprung“ von Mao Zedong, dem kommunistischen Revolutionsführer dazwischen gekommen.

Zedong ist es, der 1949 die Volksrepublik ausruft. Sein brutales Modernisierungsregime löst die größte menschengemachte Hungersnot aus, die zwischen 1958 und 1961 ca. 35 Millionen Chinesen das Leben kostet. Seine Kulturrevolution (1966 bis 1976) hatte die Abschaffung des Volkskonfuzianismus zum Ziel und sollte das kulturelle System Chinas von Grund auf ändern. Sein Nachfolger Deng Xiaoping ersetzte dann die „Erziehungsdiktatur“ seines Vorgängers durch eine „Entwicklungsdiktatur“. Beide Ären hinterließen tiefe Spuren in der chinesischen Seele.

Starke Trennung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Welt
Hervorstechendes Merkmal des chinesischen Selbstverständnisses ist die strikte Trennung zwischen der eigenen Familie und der äußeren Welt. In einer einfach Formel ausgedrückt könnte man es so fassen: die eigene Familie geht über alles, der Rest zählt nicht. Zur Illustration führen die Autoren das folgende Beispiel an: Anstatt sich über den kläffenden Hund eines Nachbarn zu beschweren, wird dieser kurzerhand vergiftet. Im Zuge dieses Beispiels erklärt sich diese Volksweisheit: „Wenn du einen Hund treten willst, dann vergewissere dich vorher, wem er gehört.“ Nach chinesischer Logik werden die Mitglieder des Familienkreises als „Shou Ren“ = gare Menschen bezeichnet und Fremde als „Sheng Ren“ = rohe Menschen. Mitmenschen werden nicht als gleichranging betrachtet.

Eine Leiche am Straßenrand
Hier noch ein illustrierendes Beispiel vom Umgang miteinander. Die Autoren berichten davon, dass im April 2017 eine Frau in Zhumadian in der Provinz Henan auf einem Zebrastreifen von einem Taxi umgefahren wird und regungslos auf der Straße liegen bleibt. Das Taxi fährt weiter. Minuten später wird sie von einem SUV überrollt.

Ich bin selbst noch nie in China gewesen, um beurteilen zu können, ob es dort wirklich so zugeht. Ähnliches kann ich aber definiti aus Indien berichten. Dort habe ich genau dieselbe Szene (fassungslos) beobachtet. Mit welchen Denkstrukturen das zusammenhängt kann ich nicht sagen, für Europäer sicherlich einfach nicht nachvollziehbar.

Ähnlich befremdend, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, hinterlässt einen diese Information aus dem Buch: „Einmal habe ich sogar erlebt, wie sich ein Konzertbesucher in den vorderen Reihen Schuhe und Socken auszog und ungeniert die Fußnägel schnitt.“

Bildung geht über alles
Selbst die ärgsten Umerziehungsversuche konnten die Chinesen nicht davon abbringen, die Ausbildung ihrer Kinder als das höchste Gut anzusehen. So geben chinesische Eltern mindestens ein Drittel des Familieneinkommens für die Ausbildung ihres Kindes aus, mehr als die Deutschen für das Wohnen. Geld muss auch für öffentliche Schulen bezahlt werden; hohe Ausgaben für Nachhilfestunden sind Standard. Die Hochschulzulassungsprüfung (Gaokao) gilt als höchstes Ziel. Diese Prüfung ist vielleicht der wichtigste Tag eines Chinesen, denn sie entscheidet über seine gesamte Zukunft: Einkommen, gesellschaftlicher Status und Heiratschancen.

Wer beim Test schummelt und erwischt wird, riskiert schlimmstenfalls eine Gefängnisstrafe von bis zu sechs Jahren. Auf die Spitzenuniversitäten schafft es manchmal nur einer von 50 000 Prüflingen. Gelernt wird auch für Status und Anssehen der Familie, die Anerkennung und Selbstachtung bringen. Denn nach chinesischer Auffassung ist Leistung das Ergebnis von Fleiß und Anstrengung und nicht von Intelligenz und Talent. Dass diese Erwartungshaltung der Familie auch eine tödliche Seite haben kann, habe ich in Indien erfahren. Hier gibt es eine ähnliche Aufnahmeprüfung für die sich Eltern verschulden und Kinder Tag und Nacht lernen. Jedes Jahr bringen sich Jugendlich um, wenn sie durch die Prüfung fallen und damit die Erwartungen ihrer Familie nicht erfüllen können.

Chinesische Schüler sind im Westen als „Auswendiglerner“ verschrien. Tatsächlich ist in den letzten Jahren ein kultureller Wandel in Richtung westliches Denken zu beobachten: Lehrer ermutigen ihre Schüler zu mehr Offenheit und Diskussionsfreude, einem selbstbewussteren Auftreten, mehr Selbstständigkeit und Eigeninitiative. Von dieser Veränderung sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Nach Ansicht der Autoren ist die Kluft zwischen den beiden Kulturen, der chinesischen und der westlichen, in den vergangenen Jahrzehnten nicht kleiner, sondern eher größer geworden.

Yin und Yang
Das chinesische Denken und Tun wird vom Rhythmus aus Yin und Yang bestimmt, modern ausgedrückt vom Wechsel aus „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Dabei sind Chinesen clever genug, auch den schlechten Zeiten etwas Positives abzutrotzen, wie dieses Sprichwort verdeulicht: „Bei Dürre baut man Schiffe, bei Flut baut man Wägen.“ Aktieninhabern wird diese Wahrheit nicht ganz fremd sein, schließlich ist es auch hier geboten, gegen den Strom zu schwimmen und Aktien zu kaufen, wenn die Kurse fallen und zu verkaufen, wenn diese steigen. Vielleicht hat China auch deshalb eine der höchsten Sparquoten der Welt? Die privaten Einlagen bei Banken belaufen sich auf umgerechnet rund 30 Billionen US-Dollar.

Heiraten auf Chinesisch
Wer in China heiraten möchte, sollte sich nicht auf verliebte Schwüre konzentrieren, sondern lieber auf Betongold: Eine Wohnsitzbescheinigung, ein eigenes Auto, eine (schuldenfreie) Wohnung, ein ordentlicher Beruf, eine gutbezahlte Stelle und ein stattliches Sparkonto sowie ein passender familiärer Hintergrund sind die entscheidenden Auswahlkriterien. Kann ein Mann das nicht bieten, findet er nur schwer eine Frau. „Ich weine lieber in einem BMW, als auf einem Fahrrad zu lachen“ soll eine Frau angeblich in einer chinesischen Verkupplungsshow kolportiert haben. Das schafft klare Verhältnisse!

Fünf Weisheiten der chinesischen Kultur

  1. Humor ist Chinesen wichtig. Sicherlich ist dem ein oder anderen von euch bei einem Aufeinandertreffen mit Chinesen bereits aufgefallen, dass diese sich gerne in Gruppen aufhalten und sich dabei auch gerne mal lautstark austauschen.
  2. Essen ist ein sehr wichtiger Bestandteil des chinesischen Selbstverständnisses: es gibt alleine acht verschiedene Regionalküchen. Es wird 3x am Tag warm gegessen. Ein kaltes Frühstück oder Abendessen bringt nur Unverständnis hervor. Auch beim Essen sind Chinesen nicht gerne alleine. Im Gegenteil, es wird einmal für alle bestellt – was dann auf dem Tisch steht, wird durch alle geteilt.
  3. Gesundheit ist ein weiteres wichtiges Thema. Über Alter, Krankheit und Tod wird dagegen nicht gesprochen. Braune Haut ist im Gegensatz zum westlichen Geschmack verpönt. Das Trinken von heißem Wasser soll die Gesundheit fördern, zumindest tötet es die Keime ab.
  4. Ein hervorstechender Charakterzug der Chinesen ist ihre Anpassung an ihre Umgebung. Anstatt diese beherrschen zu wollen, fügen sie sich harmonisch in die Gesellschaft ein, was aber nicht bedeutet, dass sie ihre eigene Kultur aufgeben, um sich im Ausland zu assimilieren.
  5. Eine Maxime dieses Volks ist das Nicht-Handeln oder das „Handeln ohne Anstrengung“: auch in Krisensituationen bleibt man unaufgeregt, behält die Nerven, agiert mit Gleichmut und Gelassenheit, Geduld und Köpfchen, um schließlich die Kontrolle zu gewinnen. „Das Glück“, so heißt es im chinesischen Verständnis, „ist mit dem Willensstarken, Entschlossenen, Fleißigen und Geduldigen.“

Staatliche Lenkung als Erfolgsmodell?
Dass Chinas Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten einen rasanten Aufstieg zu verzeichnen hatte, ist weitestgehend bekannt. In nur drei Jahrzehnten hat sich das Land von einer abgeschlossenen Agrargesellschaft in eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft verwandelt. Konnte bis vor wenigen Jahren kaum jemand fünf chinesische Firmennamen aufzählen, denkt man nun spontan an Alibaba, Tencent, Huawei, Xiaomi oder auch Geely. In China findet mittlerweile die Hälfte aller Online-Käufe weltweit statt, was die Bedeutung dieses Marktes deutlich unterstreicht.

Damit es den Chinesen auch in der Zukunft gut geht, investiert der Zentralstaat kräftig in die Bereiche Forschung und Entwicklung und fördert systematisch Schlüssel- und Zukunftsindustrien. Mit günstigen Finanzierungskrediten hilft er einheimischen Firmen, ausländische Hochtechnologie-Unternehmen zu kaufen. Künstliche Intelligenz gilt als Schlüsseltechnologie von morgen. Schon 2025 will China die USA in diesem Bereich überflügeln.

Auch die bargeldlose Zahlung hat in China längst Einzug gehalten. Sogar Bettler und Straßenmusiker fordern Passanten auf, Ihnen per Smartphone und Strichcode eine Spende zukommen zu lassen (Alipay oder WeChat). Bekannt ist zudem Chinas Engagement in der Elektromobilität. Seit 2016 ist das Land in diesem Bereich der größte Markt. 2020 will China 2 Millionen Elektro- und Hybridautos bauen; 2025 sieben Millionen. China hat jetzt bereits das größte und modernste Netz von Elektroladestationen.

Ost und West: getrennte Welten für immer?
Die Barons stellen am Ende ihres Buches fest, dass es zwar immer mehr Berührungspunkte zwischen der „chinesischen“ und der „westlichen“ Welt gibt. Dies in Form von Universitätsausbildungen, Kontakten über das Internet oder auch einem westlicheren Kleidungsstil: „Chinas Jugend ist risikofreudiger, individualistischer, materialistischer, konsumorientierter, modebewusster und hedonistischer als ihre Eltern.“ Doch, so die Beobachtung der beiden, davon soll man sich als westlicher Beobachter nicht täuschen lassen. Schließlich hätten die Chinesen auch in der Vergangenheit immer wieder fremde Einflüsse aufgenommen und nutzbringend in ihre Kultur integriert. Deshalb seien sie aber noch lange keine „anderen“ geworden. Als Beleg verweisen die Barons auf eine Studie, die besagt, dass Chinas Jugend sich zum einen mit dem gewährten Grad an Freiheit arrangieren kann. Zum anderen sei da die Tatsache, dass Chinas Kultur im Vergleich zur europäischen sehr homogen sei. Eine Migrationsbewegung, wie sie Amerika seit Anfang des Jahrhunderts und Europa sie derzeit erlebt, gebe es in China nicht.

Zum Schluss folgt der fast eindringlich wirkende Appell an den Leser, seine Vorurteile über China zu überdenken und sich auf das Werteverständnis des chinesischen Gegenübers einzulassen.

Das Ehepaar Baron hat mit seinem Werk ein interessantes und wichtiges Buch vorgelegt. Für meinen Geschmack ist der kulturelle Teil der wirklich aufschlussreiche und gewinnbringende. Teilweise sind die Passagen allerdings zu ausführlich und die Gedankensprünge zu verwirrend. Insgesamt hätte man den Plot gut kürzen und sinnvoll straffen können. Das hätte auch dem Lesefluss gut getan und das Buch insgesamt spannender gemacht.

Nun muss man in Betracht ziehen, dass Stefan Baron ein ehemaliger Banker ist und deshalb vermutlich eine wirtschaftliche Sichtweise auf die Volksrepublik hat. Das erklärt zumindest für mich, warum er das Thema Menschenrechte in dem Buch undiskutiert lässt. Allerdings hat der Titel auch nicht diese Erwartungshaltung in mir geweckt. Zudem kann ich mir aus den Erläuterungen Barons, dass sich Chinesen eher passiv verhalten, erklären, warum die Regierung sich wenig in die Angelegenheiten anderer Länder einmischt. Zur Erinnerung: Chinesen passen sich eher an die Verhältnisse der Welt an, der Westen versucht diese zu beherrschen. Gibt es hier wirlich eine einfache Entscheidung dafür, welche Variante die bessere ist? Vielleicht ist es hier angeraten, die eigene „kulturelle Brille“ einmal abzusetzen oder diese zumindest zu putzen, um wieder klar sehen zu können. Allein, und das ist mir noch wichtig, stört mich am Titel des Buches die Pauschalisierung „Die Chinesen“. Hier kann schnell der Eindruck entstehen, dass sich alle Chinesen über einen Kamm scheren lassen. Das kann ich mir nicht vorstellen, genauso wenig wie es ein einheitliches Bild von „Den Deutschen“, „Den Amerikanern“ oder „Den Russen“ geben kann. Denn das würde für meine Begriffe jegliche persönliche Eigenarten ausschließen, die sicherlich jeder Mensch aufgrund seines unterschiedlichen Erfahrungsschatzes in sich trägt.

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