Moderne Märchen: Zwischen Schurken, Dominanz und Schmerzen
Das BBK Kunsthaus zeigt derzeit die Ausstellung „Moderne Märchen„, also alte Werk neu interpretiert von Friedhelm Kranz. Dabei geht es im BBK Kunsthaus wenig fantastisch, dafür aber magisch zu. Ungewöhnlich auch die Art, wie Kranz seine Akte erstellt. Hier werden die Werke und Kunstformen anderer Künstler kopiert und manipuliert. Vielelleicht auch, so mein Gedanke, neu interpretiert. Dafür werden die Objekte zunächst in Deutschland digitalisiert und anschließend per Filehosting-Dienst nach China gesendet. Im Reich der Mitte werden sie von einem chinesischen Künstler in Öl auf Leinwand übertragen bevor sie per Luftfracht nach Deutschland zurückkehren. Das ist aber noch nicht alles. Denn hier entstehen aus den Kopien erst die eigentlichen Kunstwerke. Mithilfe digitaler Technik werden die Arbeiten überdruckt und manipuliert. Allein diese Vorgehensweise fasziniert, die daraus entstandenen Gegenstände dann umso mehr. Die Schau ist im BBK Kunsthaus noch bis zum 31. Mai 2022 zu sehen. Prädikat: sehenswert.
Kann das Zufall sein?
Die Ausstellung wird von wenig Text begleitet. Das heißt für mich, jeder bildet sich seine eigene Meinung und interpretiert vor dem eigenen Erfahrungshintergrund. Und gleich zu Beginn der Schau geht es um die Wurst. Genauer gesagt um ein paar Blutwürste, die an einer Garderobe hängen. Daneben sind Fotos des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman platziert, der in Deutschland in erster Linie durch einen Auftragsmord an seinem Kritiker Jamal Khashoggi bekannt geworden ist. Kann das Zufall sein?
Erlöser der Welt
Auch das ebenfalls im Raum hängende manipulierte Bild von Leonardo da Vinci „Salvator Mundi“ (Erlöser der Welt) mit den arabischen Schriftzeichen scheint mir kein Zufall zu sein. So formen sich die arabischen Buchstaben zu Namen. Namen, die vermutlich Menschen gehören, die dem Regime durch (öffentliche) Hinrichtungen zum Opfer gefallen sind. Unter MbS scheint die Zahl der Hinrichtungen wieder gestiegen zu sein. Unvergessen auch seine berüchtigte Aktion, als er im November 2017 Verwandte in einem Luxushotel einsperren lässt, weil diese angeblich einen Umsturz planten.
Schneewittchen und die böse (Stief-)Mutter
Einen Raum weiter geht es um Schneewittchen. Die, ihr wisst schon, Unschuldsgestalt aus dem Märchen, der von der Stiefmutter übel mitgespielt wird. Nun, ob hier mit den bösen Tieren und dem Peitschensymbol wirklich nur neidische Mütter gemeint sind, sei dahingestellt. Die Bider lassen für mich auch andere Interpretationen zu, wie zum Beispiel, die Ausbeutung asiatischer Frauen durch Männer aus der ganzen Welt.
Rapunzel zwischen Tradition und Moderne
Es geht die Treppe hinauf. Dort warten nicht nur Bilder sondern auch Instellationen. Und wer möchte, kann hier auch schriftstellerisch tätig werden. Auf einer in die Jahre gekommenen Schreibmaschine mit schwachem Farbband kann jeder Besucher seine Interpretation von „Love and Hate“ zum Besten geben. Dass die dichterischen Auswüchse teilweise schwer zu lesen sind mag auch Absicht sein. Schließlich wirken die Ergüsse so diabolischer.
Eine Videoinstallation im Raum nebenan erinnert an das 1981 verübte Attentat auf Präsident Ronald Reagan. Das Attentat wird dabei wechselweise mit Szenen aus dem Film Taxi Driver gezeigt. Geht es um vergleichbare Motive oder die schiere Gewalt?
Zum Schluss begegnen wir einer persischen Rapunzel, die zwischen Selbstbestimmung und Tradition steht. Für wen würde sie ihren Zopf herunerlassen? Die deutsche Überschrift lautet dazu: „Der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr.“ Was heißt das im übertragenen Sinne? Persiche Frauen lassen sich nicht mehr unterdrücken, sitzen nicht mehr brav zuhause, wie der Vogel im Nest und „singen“ wenn ihr Mann nach Hause kommt. Wie gesagt, die Werke lassen viel Interpretationsspielraum – aber gerade das macht die Schau für mich interessant. Was seht Ihr in den Bildern?
Kontrastprogramm im Botanischen Garten
Friedlichere Zeiten erleben wir anschließend im prächtig erblüten Botanischen Garten gleich gegenüber vom Kunsthaus. Wobei es im Gewächshaus nicht nur stachelig, sondern auch sexuell aufgeladen zugeht. Stramme Kakteen ragen in den Himmel mit Formen, die wenig Interpretationsspielraum zulassen als diesen: Phallussymbole in Reinform. Auch der Rest des Gartens überzeugt: Blühende Pfingstrosen, Rhododendren, Orchideen und dazwischen eine launische Katze und eine Blaumeise, die Modell steht. Ein wirklich gelungener Ausgleich zu Kranz’Oeuvre.