Werden wir alle wie unsere Mütter, unsere Väter?

Christina/ Dezember 27, 2019/ Kultur, Philosophisches

„Wenn man jemanden liebt, muss man behutsam damit sein, vielleicht findet man so etwas nie wieder.“

Manchmal kann es interessant sein, Filme zum zweiten oder dritten Mal in unterschiedlichen Phasen des eigenen Lebens zu sehen. Die Perspektive auf den Film bzw. die Handlung ändert sich. Das Gesehene wird in den Zusammenhang der eigenen Erfahrungen gesetzt. Das Ergebnis ändert sich immer entsprechend. Das kann sich darin äußern, dass man gewisse Passagen vorher gar nicht wahrgenommen hat oder dass diese plötzlich eine andere Bedeutung erhalten. So ist es mir kürzlich mit dem Film „Nocturnal Animals“ ergangen. Den Kinostreifen hatte ich bereits in 2016 gesehen, im Jahr seines Erscheinens. Jetzt hatte ich ihn mir nochmals aus dem Fernsehen auf Festplatte aufgenommmen. Und tatsächlich, beim zweiten Betrachten ist mir die Symbolik des Films erst richtig deutlich geworden.

Was es heißt, jemanden zu lieben
Tom Ford, der Regisseur des Films, sagt selber über dessen Bedeutung „Don’t throw people away. We live in a culture where we throw everything away. If you have someone important, someone you love, don’t throw them away, don’t let them go. Make choices very carefully in your life.“ Zu deutsch: „Wenn man jemanden liebt, muss man behutsam damit sein, vielleicht findet man so etwas nie wieder.“

Für mich hat der Film im Wesentlichen drei Schlüsselszenen. Ich werde an dieser Stelle nicht die Handlung komplett wiedergeben. Wer hier tiefer einsteigen möchte, dem sei dieses Video empfohlen. Der Film handelt von Edward und Susan. Die Handlung wird aus der Perspektive von Susan erzählt, die zu Beginn des Films eine reiche und erfolgreiche Galeristen in einer unglücklichen Ehe ist. Susan war schon einmal verheiratet, mit Edward, vor über 20 Jahren. Seit dieser Zeit hatte sie zu Edward keinen Kontakt mehr. Plötzlich tritt er wieder in ihr Leben, in Form eines Manuskripts, das er ihr nach Hause schickt. Jetzt muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen und der Frage, ob ihre Lebensentscheidungen richtig waren.

Die Schlüsselszenen
Der Film hat insgesamt drei Handlungsebenen: die erste Ebene ist das gegenwärtige Leben von Susan als wohlhabende Galeristen. Die zweite Ebene ist die Handlung von Edward’s Manuskript, so wie Susan es in ihrer Fantasie umsetzt. Die dritte Ebene ist die Retrospektive ihres Lebens mit Edward.

Die erste Schlüsselszene spielt in einem Restaurant. Edward und Susan treffen sich nach der high school zufällig in New York wieder und gehen zusammen Essen. Beide gestehen sich ihre Liebe aus Teenagerzeiten ein. Bei dem Wiedersehen spricht Edward eine Beobachtung an, die ihm bereits als Teenager sowohl an Susan als auch ihrer Mutter aufgefallen ist: „Ihr beide habt die gleiche Art von Traurigkeit in den Augen.“

Das Mutter-Tochter-Verhältnis
Da ist sie zum ersten Mal, die Anspielung auf das Verhältnis zwischen Susan und ihrer Mutter. Die nächste Schlüsselszene spielt wieder in einem Restaurant. Diesmal trifft Susan sich mit ihrer Mutter und erzählt ihr, dass sie Edward heiraten will. Die Mutter ist entsetzt, ihr schwebt eine andere Partie für ihre Tochter vor: „Und Edward, so lieb er auch ist, ist zu schwach für dich. Edward wird dir dein bisheriges Leben nicht bieten können.“ Susan’s Mutter ist sich sicher, dass auch ihre Tochter jemanden braucht, der in ihr Milieu passt, der ehrgeizig ist und ihr denselben Lebensstandard bieten kann, den sie bereits gewohnt ist. Und dann fällt der folgenschwere Satz seitens der Mutter: „Wir alle verwandeln uns in unsere Mütter“ oder in unsere Väter.

Die Prophezeiung erfüllt sich
Auch wenn Susan diesen Gedanken zunächst von sich weist und steif und fest behauptet, ganz anders als ihre Mutter zu sein, wird bereits offensichtlich, dass der Zweifel an ihr nagt. Zwar heiratet sie Edward trotz der Warnung ihrer Mutter (Trotzreaktion). Aber bald fängt sie (unbewusst) damit an, genau so zu handeln, wie es ihre Mutter ihr vorhergesagt hat: Sie beginnt, an Edward und der Beziehung zu zweifeln. Schließlich trennt sie sich von ihm, obwohl sie ihn liebt: Die Trennungsszene. Danach heiratet sich schließlich die Partie, die ihre Mutter als ebenbürtig bezeichnen würde. Das Schicksal bzw. das Lebensskript erfüllt sich.

Und da schließt sich der Kreis, als Susan zwanzig Jahre später nochmals durch das Manusskript mit ihrer damaligen Entscheidung und Handlung konfrontiert wird.

Ein offenes Ende
Ford lässt das Ende des Films offen. Das Ende lädt zu Spekulationen ein und vermutlich interpretiert jeder genau das rein, was seinen Erfahrungen entspricht. Die einen werden der Meinung sein, dass Edward späte Rache verübt und diesmal Susan sitzen lässt. Andere werden denken, Susan hat ihm den Treffpunkt gar nicht mitgeteilt. Und ob die Ehe mit Edward glücklicher verlaufen wäre ist ebenfalls reine Spekulation.

Lebensskripte und individuelle Freiheit
Aber zurück zum psychologischen Punkt: Ist es eine Zwangsläufigkeit des Lebens, dass wir im Laufe unsere Lebens alle so werden wir unsere Mütter respektive unsere Väter? Ist diese Entwicklung unausweichlich oder sind es vielmehr die unhinterfragten Glaubensätze, die wir als Kind gelernt und verinnerlicht haben und denen wir als Erwachsene immer noch Glauben schenken? So sehr, dass wir nach diesen vorgefertigten Lebensweisheiten leben ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen? Ist es nicht vielmehr so, dass wir als Erwachsene unsere eigenen Entscheidungen treffen können, unabhängig davon, was wir als Kind gelernt haben? Ja, die Psychologie behauptet, dass sich Lebensskripte neu schreiben lassen. Soweit die Theorie. Wie ist es in der Praxis? Susan wiederholt im Laufe des Films immer wieder einen Satz, der mir im Gedächtnis geblieben ist: „Ich bin Realistin.“ Wirklich? Aber was für eine Art von Realismus ist das? Die Erfüllung des von den Eltern vorgesehenen Lebenswegs? Oder die Befolgung der gesellschaftlichen Ansprüche? Und wenn das so ist, wie sieht es dann mit der viel beschworenen Freiheit und Individualität der westlichen Gesellschaft aus? Gibt es die überhaupt oder sind dass alles nur Varianten des einst vorgeschriebenen Lebensweges – entweder durch Anpassung oder Rebellion (was auch eine Art der Anpassung ist)?

Im Film zeigt Susan folgendes Verhalten: Das Vertrauen in sich selbst und ihre Beziehung zu Edward wird durch die Glaubenssätze ihrer Mutter erschüttert. Dennoch setzt sie deren Lebensweisheiten um. Nach dem Lesen des Manuskripts tritt die Reue ein. Es bleibt die Hoffnung auf eine Wiedergutmachung: Das Hoffen auf eine bessere Vergangenheit, die nicht eintritt. Denn in der letzten Szene bleibt Susan mit sich und ihrer Lebensentscheidung allein. Aber vielleicht hat sie sich auch einfach für ihr bisheriges Leben entschieden.

Mit diesen Überlegungen schließe ich meine philosophischen Betrachtungen für dieses Jahr und wünsche allen einen guten Rutsch in das neue Jahrzehnt. Vielleicht nutzt der ein oder andere von euch die freien Tage, um über sein bisheriges Lebensskript nachzudenken. Möge die Macht mit euch sein!

Weitere Videos zum Film:

Share
Share this Post