Buchrezension: In den Gangs von Neukölln. Das Leben des Yehya E.

Christina/ Juni 4, 2018/ Kategorien, Kultur

Das Leben und den Werdegang eines anderen Menschen zu beurteilen, indem man diesen wahlweise bewundert oder verteufelt, scheint ein menschlicher Charakterzug zu sein – besonders dann, wenn es sich um einen sogenannten Intensivstraftäter handelt, wie im Fall des Yehya E. Einem staatenlosen Palästinenser, der im Alter von vier Monaten mit seinen Eltern aus einem libanesischen Flüchtlingslager nach Deutschland flieht und dort nie wirklich ankommt bzw. heimisch wird.

Oberflächlich betrachtet hat es Yehya E. in der Zeit (2005-2014), in der Christian Stahl, der Autor des Buches, den jungen Mann begleitet, nie wirklich geschafft, seine kriminelle Karriere tatsächlich und nachhaltig zu beenden. Nach eigener Aussage will er gar nicht so sein, wie er ist. Aber, setzt er wirklich alles daran, der vermeintlichen Anspruchshaltung des Norden Neuköllns – nämlich ein rücksichtsloser Gangster-Boss zu sein – etwas entgegen zu setzen?

Das Buch „Gangs of Neukölln“ bringt noch eine andere Perspektive ins Spiel. Welchen Anteil hat das deutsche Asylgesetz, das es Yehya weder erlaubt zu arbeiten noch Berlin zu verlassen, am kriminellen Werdegang des Palästinensers? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage vermag und kann das Buch vielleicht auch gar nicht geben. Was es aber auf jeden Fall schafft ist, und das macht das Buch meiner Ansicht nach absolut lesenswert, ist die Niederschrift der wechselvollen Geschichte, die jeden, der sich für diese Thematik interessiert zum Nachdenken anregen sollte. Eine Reflexion, die zumindest das leichtfertige Urteil darüber hinterfragt, ob alle Straftäter, die alleinige Schuld an ihrer Situation trifft und ob das deutsche Asylsystem nicht einer Überarbeitung bedarf.

Aus der Zusammenarbeit zwischen Yehya E. und Stahl ist der Film „Gangsterläufer“ entstanden. Ein Film, der dem Protagonisten einen gewissen Ruhm eingebracht hat und vielleicht sogar den Hauch einer Chance, ein „normales“ Leben in Deutschland zu führen. Aufgrund seiner geringen Frustrationstoleranz – so scheint es – schafft es Yehya allerdings wieder einmal nicht, sich aus seiner kriminellen Karriere zu befreien und wird rückfällig.

Die Vorgehensweise des intelligent wirkenden jungen Mannes bei seinen Taten ist brutal, sein Verhalten trotz aller Umstände unentschuldbar. Und es bleibt die Frage, warum tut er sich das selbst an? Vielleicht ist diese Wahrnehmung aus meiner Perspektive auch zu einfach gedacht. Schließlich darf ich überall hinreisen, durfte die Ausbildung absolvieren, die ich machen wollte und durfte studieren, was ich wollte – auch, wenn ich fast alles alleine finanziert habe. Aber ein Ereignis werde ich nie vergessen. Während meiner Zeit in Jordanien musste ich mein Visum verlängern, was natürlich für mich als Europäerin problemlos möglich war. Allerdings war es auf dem Amt, das die Visaverlängerung vornimmt, sehr voll an dem Tag als ich dort hinkam. Und dann passierte das Unfassbare: Die Menschen, die in der Schlange anstanden – vermutlich alles Jordanier oder Palästinenser – ermunterten mich sehr freundlich dazu, zur Spitze der Schlange durchzugehen. Ich winkte ab, weil mir das einfach nur peinlich war. Die Menschen ließen aber nicht locker und ich sah, dass ich ihnen tatsächlich eine Freude damit machte, dass ich ihre Einladung, zuerst an die Reihe zu kommen, annahm. Für diese Leute war ich Gast in ihrem Land und als solchen wollten sich mich behandeln. Eine Szene, die ich mir bis heute nicht in Deutschland vorstellen kann – leider.

Zum Weiterlesen:

  • Zum Buch
  • Dossier zum Film Gangsterläufer
  • Share
    Share this Post