Die falschen Freunde der einfachen Leute
Robert Misik, seines Zeichens Wiener Journalist und politischer Schriftsteller, hat ein Essay vorgelegt: „Die falschen Freunde der einfachen Leute“ heißt es. Und sogleich stellt sich die Frage: Wen oder was bezeichnet der Terminus „einfache“ Leute? Umgangssprachlich ist damit die Arbeiterklasse gemeint, jene Schicht von Leuten, die durch harte und langläufig als „ehrlich“ bezeichnete Arbeit, ihr Geld verdient: Krankenschwestern, Supermarktkassiererinnen, Angestellte bei der Müllabfuhr, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wer sind diese einfachen Leute?
Misik kommt schließlich zu dem Schluss, dass es DIE einfachen Leute im Sinne einer homogenen Gruppe nicht gibt oder nicht mehr gibt. Schließlich hat sich die Zuammensetzung der heimischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, z.B. durch Zuwanderung, verändert. Gut, hier gibt es also erst einmal keine einfach Definition.
Wie verhält es sich dann mit den „falschen“ Freunden, also den falschen Freunden dieser „einfachen“ Leute? Wer sind diese? Die Politik? Die Mittelschichten? Die Eliten? Die rechten Populisten? Wir sehen schon, wer auf der Suche nach einfachen Antworten ist, die die Komplexität der Wirklichkeit auf ein schwarz-weiß Denken reduzieren, der ist bei diesem Essay falsch. Und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen lohnt es sich, sich die gut geschriebenen 132 Seiten des Wiener Autors zu Gemüte zu führen.
Der apathische Bürger
Warum ich das meine möchte ich an ein paar Passagen des Buches illustrieren. Da ist zunächst einmal die Kaste der (Berufs-)Politiker. In dieser Gruppe ginge es mittlerweile nicht mehr darum, kompetent zu sein, sondern Kompetenz darzustellen, wählbarer zu wirken als der Rivale und in einer Geschwätzigkeitskultur mit Showtalent zu brillieren. Gesteuert würden diese Volksvertreter von PR-Beratern, Meinungsmachern und Lobbyisten. Ein Blick auf die Lobbyliste des Bundestages scheint diese Einschätzung eindrücklich zu bestätigen. Hat diese Art von Politik noch etwas mit dem „einfachen“ Mann auf der Straße zu tun bzw. fühlt sich dieser überhaupt noch von seinen gewählten Repräsentanten vertreten? Vermutlich ist das dem einen oder anderen Politiker sowieso egal, ihm oder ihr ist der „apathische Bürger“ lieber. Und bei diesem herrscht ein Gefühl der Verlassenheit vor, der Verachtung; er sieht sich als Verlierer der Globalisierung und der zunehmenden Migration – Zuwanderer sind schließlich die günstigeren Arbeiter. Daraus ergibt sich ein Sentiment der Abwertung, d.h. die latente Bedrohung jederzeit ersetzbar zu sein durch jemanden, der einen Job billiger macht. Hier wird der Mensch zur Kostenstelle.
Existenzielle Sicherheit als Maß der Zufriedenheit
Was sind also die Zutaten einer als sicher empfundenen Existenz, die zuversichtlich stimmt und das Leben halbwegs planbar macht und das Gefühl vermittelt, Souveränität über das eigene Leben zu besitzen? Anerkennung, Respekt, mit Würde behandelt zu werden, einen Arbeitgeber zu haben, der eine soziale Verpflichtung übernimmt und den Mitarbeiter als Mensch und nicht als Instrument behandelt. Klingt erstmal machbar oder? Aber da scheinen sowohl der Fortschritt als auch die Renditeerwartung des Arbeitgebers dem Arbeiter einen Strich durch die Rechnung zu machen: Digitalisierung, Flexibiliät, sinkende Löhne, Verlagerung von Arbeitsplätzen in das Ausland bzw. Besetzung von Stellen mit „günstigeren“ Arbeitskräften. So wird der Werktätige unter Druck gesetzt, wird zum Bittsteller, wird klein gehalten. Das Ergebnis ist nicht selten der Verlust des Selbstwertes: „Sicherheit ist nämlich […] nicht das Gegenteil von Selbstverwirklichung und Individualismus, sie ist deren Voraussetzung“, schreibt Misik. Und weiter: „Nur wer sicheren Boden unter den Füßen hat, kann auch Risiken eingehen.“
Was charakterisiert die „falschen“ Freunde?
Snobismus, Arroganz, Gängelung und Machtgefälle sind die Bestandteile des sinkenden Respekts gegenüber den „einfachen“ Leuten. Begleitet werden diese Verhaltensweisen durch ein Herabblicken auf die Arbeiterklasse, „an denen ist nichts Besonderes, nichts Bemerkenswertes.“ Verletzungen durch Klassenzugehörigkeit nennt der Autor dieses Phänomen. Daraus resultieren Ängste, ausgelöst durch Ohnmachtserfahrungen und chronische Verletzungserlebnisse, die sich tief in die Psyche des Einzelnen eingraben (können).
Empathisches Verständnis als Grundvoraussetzung
Sind diese „einfachen“ Leute nun über einen Kamm zu scheren? Sind das die Leute, die den Populisten in die Arme laufen? Wieder gibt es keine einfache Antwort. Misik zieht den Schluss, dass diese Menschen keineswegs rassistisch sind, sondern vielmehr enttäuscht. Sie sind schlichtweg frustriert vom Umgang der Politik mit ihnen: Ökonomische Bedrängnis, Abwertungserfahrungen und kulturelle Entfremdung durch geballte Zuwanderung führen zu Bitterkeit. Eine verschärfte Konkurrenz um Jobs, Wohnungen, gute Ausbildungsstätten usw. verunsichern. Und was würden diese Menschen brauchen? Respekt, Sicherheit und ein bisschen Glück im Leben. Misiks Essay regt zum Nachdenken an – Prädikat wertvoll.