Claudia Haarmann: Kontaktabbruch

Christina/ März 16, 2024/ Kultur, Philosophisches

Claudia Haarmann’s Buch „Kontaktabbruch. Kinder und Eltern, die verstummen“ ist sicherlich eines der besten Bücher, die ich zu diesem Thema gelesen habe. Es ist sehr verständlich geschrieben. Es lebt aber besonders von den authentischen Berichten Betroffener. Ich bin mir sicher, dass all diejenigen, die sich mit dem Buch angesprochen fühlen, Sätze entdecken werden, die sie selbst als Kind gehört haben. Die Lektüre hat mich sofort gefangen genommen und besticht durch seine Neutralität gegenüber den Beteiligten. Und ja, die Suche nach Sicherheit und Halt, die Haarmann immer wieder betont, ist leider etwas, das sich wie eine rote Linie durch die Leben der betreffenden Töchter und Söhne zieht.

Der lange Weg zu sich selbst
Warum ist Neutralität gegenüber den Parteien wichtig? Nun, das mag eine der bittersten Erkenntnisse sein, denen man sich auf dem Weg zur eigenen Identität stellen muss. Sowohl die Wut, die man auf seine Eltern oder besonders auf einen Teil von beiden empfindet als auch die Schuldzuschreibungen, mögen gerechtfertigt sein. Das Ganze hat nur einen Haken: es bringt einen nicht weiter. Die schmerzvolle Wahrheit sieht leider so aus, dass sich nur jeder aus eigener Kraft von den Lasten der Kindheit befreien kann. Wie heißt es so schön bei Stefanie Stahl „Das Kind in dir muss Heimat finden„. Richtig. Leider heißt es nicht, „deine Eltern müssen dem Kind in dir Heimat geben“. Genau, die ganz Arbeit der Nachfürsorge hängt an dir! Und ich bin mir sicher, dass das Buch von Frau Stahl kein Bestseller wäre, wenn die meisten Eltern ihren Kinder genau das mitgegeben hätten, was sie am meisten brauchten: Sicherheit und Halt. Zu diesem Vorwurf gehört allerdings auch die schonungslose Erkenntnis, dass es viele von ihnen vielleicht gut gemeint aber nicht gekonnt haben. In ihrem vierten Kapitel „Die ungestillte Sehnsucht – wenn Nähe und Geborgenheit fehlen“ beschreibt die Autorin sowohl das Gefühl allein gelassen zu werden als auch die Konsequenzen.

Ein Konflikt über Generationen
Als Kind durfte ich mir die Leidensgeschichte meiner Mutter fast jeden Tag anhören. Ich bin mir sicher, dass ich in meinen jungen Jahren nicht alles richtig verstanden habe und einordnen konnte. Meine Mutter ist ein Kriegskind. Sie hat die Flucht von Ostpreußen in das heute Westdeutschland erlebt und mitgemacht. Damals war sie ungefähr zweieinhalb Jahre. Ihre Mutter, also meine Großmutter, war damals eine völlig überforderte Witwe. Ein schreiendes und verängstigtes Kind konnte sie auf der Flucht nicht gebrauchen. Sie wusste ja selbst nicht, ob und wie es weitergehen sollte. Bereits damals, so erinnerte sich meine Mutter, waren Flüchtlinge alles andere als willkommen. Wer wollte nach dem Krieg seine wenigen Habseligkeiten schon mit anderen, fremden Menschen teilen? Weder meine Oma, noch meine Mutter sind jemals über ihre Kriegserlebnisse hinweggekommen. Ihre Ängste, ihre Nöte, ihre Entbehrungen haben sie an die nächste Generation weitergegeben. Also an mich. Meine Mutter muss die unbewusste Hoffnung gehabt haben, dass ich als ihr Kind ihr die Sicherheit und den Halt geben kann, den sie wiederum von ihrer Mutter nicht bekommen konnte. Genau das war die Rolle, die meine Mutter mir zugedacht hatte. Als kleines Mädchen, dass die Liebe der Mutter um alles in der Welt braucht und sie glücklich sehen will, habe ich natürlich alles versucht, um es ihr Recht zu machen. Ich kann nicht sagen, wieso und warum, aber irgendwann war mir klar, dass ich all dies an die nächste Generation weitergeben werde, wenn ich die Kette nicht durchbreche. Die Kehrseite der Medaille ist, dass ich dafür einen hohen Preis zahle. Mehr dazu findet sich im sechsten Kapitel bei Haarmann: „Kriegstraumata und die Folgen für die nächste Generation“.

Autonomie und Selbstbestimmung unerwünscht
So wie das Kreuz Draculas größter Feind ist, sind es Autonomie und Selbstbehauptung, die besonders narzisstisch veranlagten Eltern gefährlich werden können (s. hierzu Kapitel 9: „Mütter und Väter, die im Mittelpunkt stehen – sogenannte narzisstische Eltern). Was aber passiert, wenn die Rechnung nicht aufgeht, wenn die Tochter nicht die Erwartungen der Mutter erfüllt? Tatsächlich versteht der weibliche Elternteil dann die Welt nicht mehr. Solange ich mich so verhalten habe, wie meine Mutter sich das gewünscht hat, war alles in bester Ordnung. Solange war ich ihr Lieblingskind und das brave Mädchen, dass keine eigenen Wünsche hat, sich die Sorgen der Mutter anhört und Ihr darüberhinaus im Haushalt so sehr zur Hand geht, dass sie für sich selbst eigentlich kaum Zeit hat. Solange mir meine Mutter alle Freundschaften ausreden konnte, die Freunde und Bekannten meinten, sie sei ja viel hübscher als ich, ja genau so lange war alles in bester Ordnung. Das ich mit dieser Art aufzuwachsen, also praktisch die Partnerin meiner Mutter zu sein, völlig überfordert war, war vermutlich weder ihr noch mir bewusst. Im fünften Kapitel ihres Buches „Ohne Halt und Geborgenheit – Kinder, die zu Rettern werden“ geht Haarmann näher auf diese zu hohen Erwartungen ein.

Irgendwann aber, es mag vielleicht in der Pubertät gewesen sein, wollte ich nicht mehr das Anhängsel meiner Mutter sein, sondern herausfinden, wer ich selbst bin. Ich glaube, das war der Anfang vom Ende. Der Punkt, als meine Mutter bemerkte, dass ich ihrer Kontrolle mehr und mehr entglitt. Natürlich konnte sie sich diese Veränderung überhaupt nicht erklären. „Früher sei ich doch immer so lieb gewesen“, hieß es dann. Leider war meine Mutter auch sehr gut darin, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Entweder drohte sie mir mit der Strafe Gottes oder damit, dass sie nun nicht mehr meine Mutter sei. Der Spagat zwischen meinem Wunsch, ein eigenes Leben zu führen und gleichzeitig nicht als „schlechter Mensch“ zu gelten und mich selbst zu fühlen, ist ein fast unlösbarer Konflikt. Viele, viele Jahre später – eigentlich Jahrzehnte später erst, hat mich schließlich mein Körper dazu gezwungen, die Entscheidung zwischen meinem Wohl und dem meiner Mutter zu treffen. Kurz nach dem Tod meines Vaters kam es an Weihnachten zu einer Szene zwichen meiner Mutter und mir, in der sie ihre ganze Wut und ihre Ohnmacht, mit dem Tod umgehen zu können, auf mich projeziierte. Geschlagene 20 Minuten, so lange dauerte der Weg von der Kirche zurück in unser Wohngebiet, schimpfte sie auf mich ein, was ich für eine schlechte Tochter sei. Ohne darüber nachzudenken, merkte ich ganz plötzlich, dass genau jetzt der Punkt war, das Ganze zu beenden. Ich ging einfach zurück in meine Wohnung und wusste, dass dies der endgültige Kontaktabbruch meinerseits war.

One size fits all gibt es nicht
Meine Mutter hat diesen Wunsch des Kontaktabbruchs natürlich nicht akzeptiert. Immer wieder hat sie, mal mit Drohungen, mal mit Schmeicheleien versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich konnte und kann das aber einfach nicht mehr. Fast 10 Jahre später hat mich ein Freund dazu überredet, noch einmal auf ein Kontaktgesuch meiner Mutter einzugehen. Er hat mich zu diesem Treffen begleitet, weil er die Erzählungen über meine Mutter, die er sowohl von mir als auch meinem Bruder kannte, nicht glauben konnte. Als er sie dann persönlich erlebt hat, waren seine Zweifel allerdings zerstreut. Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden. Ich wünsche meiner Mutter alles Gute, Gesundheit und ein langes Leben. Ich habe verstanden, dass sie aus ihrer eigenen Geschichte heraus nicht anders handeln kann. Ich bitte aber auch um Verständnis dafür, dass ich mich für ein selbstbestimmtes Leben entschieden habe. Der Weg zu meinem Selbst ist noch lange nicht abgeschlossen. Er ist sehr steinig und immer wieder lauen Tretminen auf dem Weg. Halt und Geborgenheit, beides habe ich oftmals in meinem Beziehungen gesucht – aber auch leider dort nicht gefunden. Offensichtlich hat das Kind in mir seine Heimat noch nicht endgültig gefunden. So zeigen es auch die Lebensgeschichten in Haarmann’s Buch. „One size fits all“ gibt es halt nicht. Jeder geht mit seinen (verdrängten) Erlebnissen aus der Kindheit anders um. Der eine mag Trost im Alkohol such, der nächste im Sex, der übernächste im übermäßigen Essen oder in der Magersucht. Es gibt viele Formen der Ablenkung von den eigentlichen Problemen. Niemand sollte sich das zu einfach vorstellen. Es braucht viel Mut und Stärke, sich seinen Dämonen zu stellen. Auch Frau Haarmann präsentiert in ihrem Buch kein Allheilmmittel, aber, mir hat es gut getan zu lesen, dass ich mich für den Kontaktabbruch einerseits nicht schämen muss. Andererseits ist auch die Erkenntnis wichtig, dass jede Seite ihre Gründe für das eigene Verhalten hat – mögen diese bewusst sein oder nicht.

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