Die Revolution hat ein weibliches Gesicht

Christina/ September 20, 2021/ Kultur, Philosophisches

Der Braunschweiger Dom wird an diesem Tag zum politischen Forum: Olga Shparaga, Philosophin und Bürgerrechtlerin aus Belarus, ist zu Besuch. Shparaga wohnt seit ihrer Flucht aus dem Heimatland in Berlin. Heute liest Kathrin Reinhardt ausgewählte Passagen aus dem Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“ der Belarussin. Im Anschluss an die Lesung findet ein Gespräch zwischen der Buchautorin und der Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber statt. Erst vor Kurzem wurde eine Mitstreiterin Shparagas zu elf Jahren Lagerhaft verurteilt, die Oppositionelle Maria Kolesnikowa.

Ein Diktator rastet aus
Seit über einem Jahr herrscht Ausnahmezustand in Belarus. Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 geht die Opposition in Weißrussland auf die Straße. Die dreisteste Aktion, an die ich mich erinnern kann, ist wohl die Entführung einer Passagiermaschine, angeordnet durch den Diktator Lukaschenko, die in Minsk „notlanden“ muss. „Zufällig“ an Bord ist einer der größten Widersacher Lukaschenkos, der oppositionelle Journalisten Roman Protassewitsch. Eine Aktion, die man in Europa nicht für möglich gehalten hätte. Was im Kopf dieses Autokraten vor sich geht, lässt sich nicht einmal erahnen. Dass er jedoch ein rechter Macho zu sein scheint, davon erzählt Olga Shparaga unter anderem an diesem Abend.

Die Revolution hat ein weibliches Gesicht
In seinem Machowahn scheint sich Lukaschenko nicht vorstellen zu können, dass Frauen den Mut haben, sich gegen ihn aufzulehnen. Aber, so erzählt es Shparaga in ihrem Buch, nachdem die Männer verhaftet wurden, gingen zunächst die jungen und dann die alten Frauen auf die Straße.

Olga Shparaga gab Vorlesungen am European College of Liberal Arts in Minsk. Sie hat in vielen Ländern geforscht, so z.B. in Tschechien, in Polen, in den USA und in Deutschland. Von Belarus ist sie zunächst nach Vilnius geflohen und lebt jetzt in Berlin. Ich bin überrascht, wie gut sie Deutsch spricht. An diesem Abend liest Kathrin Reinhardt vom Staatstheater Braunschweig drei Passagen aus Shparaga’s Buch. Als Zuhörer bekommt man nur eine ungefähre Ahnung davon, was es bedeuten muss, gegen einen wie Lukaschenko und seinen Staatsapparat auf die Straße zu gehen, geschweige denn im Gefängnis zu landen.

„Bis zu diesem Sommer haben wir uns nicht gekannt“
In Shparaga’s Buch geht es auch oder besonders um Solidarität. Es geht um den Zusammenhalt zwischen Frauen, die sich mutig gegen einen Diktator auflehnen und sich im Gefängnis gegenseitig Schlaflieder gegen die Angst vorsingen. Die belarussische Philosophin selbst hat eine Zeitlang in Haft gesessen. Sie erzählt vom schlechten Essen, das kaum genießbar sei. Von den Tagen, die die Gefangenen am Tisch verbringen müssen und vom Neonlicht, das auch in der Nacht brennt. Trotz allem macht Shparaga einen gefassten und zuversichtlichen Eindruck. Ihr Satz „Bis zu diesem Sommer haben wir uns nicht gekannt“, der ausdrücken soll, wie gleichgültig sich die Belarussen bis zu diesem Zeitpunkt waren und wie die Proteste die Menschen haben zusammenrücken lassen, hat mich tief bewegt.

Es ist diese Vernetzung der Gesellschaft, die der Protestbewegung neue Nahrung gibt. Danach gefragt, wie sich das Land Belarus in den nächsten zehn Jahren entwickeln könnte, antwortet Shparaga, dass sie sich ein demokratisches Land mit einer starken Gesellschaft und politisch aktiven Menschen wünscht. Man wünscht es ihr sofort, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen möge.

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