Die Türkei heute: Krise oder Untergang?
Die jüngsten Nachrichten aus der Türkei sind aus unserem demokratischen Verständnis heraus schwer nachzuvollziehen. Die Meldungen über Journalisten und Intellektuelle, die entweder im Gefängnis landen oder das Land verlassen, sind bestürzend. Hinzu kommt eine veritable Wirtschaftskrise, die das Land erfasst hat. Über militärische Interventionen in Krisengebieten versucht Präsident Recep Erdogan, so hat es den Anschein, zum einen von innenpolitischen Problemen abzulenken. Zum anderen versucht er den Traum vom Osmanischen Reich wiederzubeleben. Orhan Sat, seines Zeichens Politologe und Fachsekretär der Gewerkschaft Ver.di, spricht in seinem Vortrag von einer Krise, wenn nicht sogar dem drohenden Untergang der türkischen Politik und Wirtschaft. Auch in seinem abschließenden Ausblick, wie es in der Türkei weitergehen könnte, hat Sat leider nicht viel Positives zu berichten.
Der Putschversuch im Juli 2016
Ausgangpunkt des Vortrages ist ein gescheiterter Putschversuch. Am 15. Juli 2016 putschen Teile des Militärs in den großen türkischen Städten Istanbul und Ankara gegen die Regierung Erdogans. Dem Präsidenten gelingt es den Umsturzversuch zu vereiteln. Hinter dem organisierten Staatsstreich wird der ehemalige Prediger Fethullah Gülen vermutet, der in den Vereinigten Staaten von Amerika lebt. Im Anschluss beginnt eine großangelegte Verfolgungs- und Verhaftungwelle von vermuteten Oppositionellen, die auch in den Nachrichtensendungen des westlichen Europas Wellen schlägt.
Im Anschluss an den gescheiterten Putschversuch, so erklärt Orhan Sat, haben die beiden Parteien, die AKP Erdogans und die MHP ein Bündnis geschlossen. Um seine Macht zu sichern, hat Erdogan in 2017 die Verfassung per Referendum umfassend reformiert, seit den Wahlen in 2018 ist er alleiniger Herrscher am Bosporus und ernennt z.B. Minister aus seinem loyalen Umfeld. Diese Regierungsmitglieder, so erklärt Sat weiter, können gleichzeitig erfolgreiche Unternehmer sein.
Mit Projekten Sand in die Augen streuen
Seit den letzten Wahlen versucht der Staatspräsident seine Macht mit verschiedenen Operationen zu festigen. Eine Säule ist die Beschwörung der einstigen Stärke des Osmanischen Reichs, das von 1299 – 1929 dauerte. Eine zweite Säule ist die wiedererstarkte Bedeutung des Islams in der Türkei, ganz im Gegensatz zum „großen Vater“ der Türkei, Atatürk, der den Staat laizistisch führte. Eine dritte Säule ist die Privatisierung des öffentlichen Sektors verbunden mit einer Wirtschaftselite, die Erdogan gegenüber loyal ist. So wurden z.B. die Zucker- und Zementindustrie und der Schiffs- und Straßenbau privatisiert.
Binnenwirtschaftliches Prestige versucht sich Erdogan zudem über Großprojekte wie den Istanbul Kanal zu verschaffen. Außenpolitisch tut er dies über militärische Einmischung in fragilen Staaten wie Syrien, Afghanistan oder Lybien.
Wirtschaftskrise in der Türkei
Was für Erdogan allerdings tatsächlich bedrohlich ist, das ist die anhaltende Wirtschaftskrise des Landes. Wurde der Präsident in den Anfangsjahren seiner Amtszeit auch für seinen wirtschaftlichen Erfolg gelobt, hat sich sein Fortune mittlerweile in das Gegenteil verwandelt: die Lira ist im freien Fall, die Arbeitslosigkeit im Land auf ungeahnten Höhen.
Erdogans langer Arm in Deutschland
Die letzte Folie, die Orhan Sat an diesem Abend präsentiert, wird vom Publikum besonders aufmerksam gelesen. Es geht um Lobbyisten-Organisationen, die in Deutschland oder auch europaweit für den Präsidenten tätig sind. Eine Folie zeigt 11 verschiedene, AKP-nahe Einrichtungen auf, die in Deutschland aktiv sind. Darunter sind berüchtigte Organisationen wie die „Grauen Wölfe“ oder so staatsfreundliche Vereinigungen wie Osmanli Ocaklari, die Rockerclubs Osmanen Germania und Turkos MC. Das Raunen in den Reihen macht deutlich, dass diese große Anzahl der türkischen Lobbyisten so nicht bekannt ist.
Wie geht es weiter in der Türkei?
Ob und wie lange sich Erdogan noch an der Macht halten kann, das vermag Orhan Sat nicht zu sagen. Sein Fazit fällt eher nachdenklich, ja beinahe düster aus und kann (zunächst) keine Hoffnungen wecken. Sein großes Pfand gegenüber Europa sind sicherlich immer noch die syrischen Flüchtlinge, die sich in der Türkei aufhalten. Einen Dienst, den der Präsident sich von der EU gut bezahlen lässt. Die Zeit wird zeigen, wie lange dieses Vabanquespiel noch gut geht.