Eine arabische Idee geht um die Welt
Das Abschluss-Plädoyer Ulrich Kienzles zu einem gelungenen, kurzweiligen Abend hallt nach: „Zum ersten Mal ist eine arabische Idee „Kefaya – genug“ um die Welt gegangen. Von Tunesien, über Ägypten und Lybien nach Israel, Spanien und Griechenland, wo ebenfalls junge Menschen, um gegen die jeweilige Regierung zu protestieren, auf die Straße gingen. Und wenn man so will, darf man auch die „Occupy Wallstreet“-Bewegung dazu zählen. Eine Idee, also, von weltpolitischer Wirkung“.
In Ulriches Kienzles Lesung „Abschied von 1001 Nacht. Mein Wunsch, die Araber zu verstehen“ stand zunächst sein gleichnamiges Buch im Vordergrund. Dass der Abend aber nicht zu einer Verkaufsveranstaltung, sondern zu einem interessanten Einblick in das Leben eines Auslandskorrespondenten führte, ist tragischen, komischen und skurrilen Geschichten und Geschichtchen zu verdanken in die Kienzle immer wieder den Abend einbettete. Gelesen wurde dann auch vergleichsweise wenig. Erzählt aber viel, dann fast soviel, dass Kienzle schlussendlich von seinem Verlagsbegleiter regelrecht in seinem Erzählfluss (leider) „gestoppt“ werden musst.
Zu Beginn des 100-minütigen „Lesungsgesprächs“ fasste Kienzle zunächst aus seiner Sicht die aktuellen Entwicklungen in der „Arabischen Welt“ zusammen. Er rekurrierte auf den Auslöser der Unruhen in Nordafrika vor über einem Jahr in Tunesien, als sich ein Gemüsehändler aus Protest vor einer Polizeistation selbst verbrannte. „Vier Diktatoren“, so Kienzle, „sind weg“. Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten, Gaddafi in Lybien und Saleh aus dem Jemen, der zunächst nach Saudi Arabien und nun in die USA floh. „Es ist nicht sicher“, so fuhr Kienzle fort, ob Ägypten demokratisch regiert werden wird“. 70 % der Ägypter hätten in den Wahlen islamischtische Parteien gewählt. Der Westen hat Angst vor diesem Islamismus. Damit ging Kienzle kurz auf die Militärgeschichte des Landes ein. Das Militär sei der größte Arbeitgeber in Ägypten und nach der Niederlage im Oktoberkrieg 1973 in zwei „Lager“ aufgeteilt worden: in das militärische und das wirtschaftliche Lager. Das heißt, das Militär bestimmt nicht nur den Verteidigungssektor, sondern auch die wirtschaftlichen Geschicke des Landes. Es sei also die Frage, so schließt Kienzle seinen Exkurs, ob das Militär bereits sei, seine Macht aufzugeben. Zudem stellte er die These auf, dass die „Facebook-Generation“, die die Revolte in Ägypten in Rollen gebracht hätte, nun der Verlierer sei, weil sie es nicht geschafft hätte, die Leute von ihrer Idee zu überzeugen. Diese These mag nicht ganz falsch, aber doch zu hinterfragen sein, angesichts der Tatsache, dass das Land jahrzehntelang unter der Ein-Parteien-Herrschaft stand und sich an einen demokratischen Gedanken der Mitbestimmung wohl auch erst gewöhnen muss. Geben wir den Leuten also etwas Zeit.
Zu der „Brotrevolte“ am 17.01.1977 war Kienzle bereits ARD-Korrespondent im Nahen Osten gewesen. Zunächst hatte er „sein“ Studio in Beirut, der libanesischen Hauptstadt, später dann in Kairo. Aber auch ein krisenerfahrener Korrespondenten wie er, das gibt er zu, habe die Umbrüche in den arabischen Ländern nicht kommen sehen und führt dies in einer kurzen Erklärung auf das verklärte Bild des Westens vom „schwülstigen“ Orient zurück, dass im 18. Jahrhundert durch einen französischen Orientalisten geprägt worden sei, der „Porno für höhere Stände“ geschrieben hätte, wenn man so will. Die Idee von 1001-Nacht war geboren, dank Antoine Galland. Diese Männerphantasie fand mit den Ereignissen von 09/11 jedoch ein jähes Ende bzw. einen Gegenpol: den arabischen Terrorismus. Jetzt konnte der Araber entweder nur weltentrückt erotisch oder brutal terroristisch sein. Dazwischen gab und gibt es nicht viel im westlichen Gedankengut zur Arabischen Welt. „Unsere Medien“, so erklärt Kienzle, „machen negative Werbung für die Terroristen. Dadurch werden die Araber unterschätzt, denn nur ein Prozentsatz in der Promille-Höhe kann unter diesen beiden Polen subsumiert werden“.
Interessant waren aber auch Kienzles Ausflüge in seine „Vor-Nahost-Korrespondenten-Zeit“, also praktisch dahin zurück, wie alles anfing. Nach seinem Studium der Politikwissenschaften zog es den Schwaben zunächst zum SDR, wo sein erster Filmbeitrag fast einem nicht sprechen-wollenden Sprecher zum Opfer gefallen wäre. Heute kaum noch vorstellbar ist, dass seine Beiträge, die er damals aus dem libanesischen Bürgerkrieg lieferte, zunächst per Flugzeug nach Deutschland zur Bearbeitung und zum Schnitt gesandt werden mussten und oft erst drei bis fünf Tage nach den eigentlichen Geschehnissen gesendet wurden. „Zudem habe ich“, so Kienzle, meine damaligen Beiträge nach der Fertigstellung selber nicht sehen können“. Seine Zeit im Libanon, wo er sechs Monate vor Ausbruch des Bürgerkrieges seine Karriere als Nahost-Korrespondent begann, scheint den gebürtigen Schwaben durch seine Grausamkeit während des Krieges geprägt zu haben. Er berichtet von Kameramännern, die angesichts von Schusswechseln sind mehr drehen wollten oder sich mit Alkohol betäuben mussten, um das Geschehen zu ertragen.
In einem Resümee fasst Kienzle zum Schluss seine Eindrücke vom „Arabischen Frühling“ zusammen: „Die Verlierer der Bewegung scheinen die Frauen in Ägypten und Lybien und die Israelis zu sein, die zu lange auf Mubarak gesetzt haben“. Zu den Gewinnern zählt der Autor die Türkei, die besonders den lybischen Aufstand für einen geschickten Schachzug genutzt hätten, indem sie ein Lazarettschiff nach Misrata geschickt hätten, um den Leuten vor Ort humanitär zu helfen. Das hätte die arabische Welt nachhaltig beeindruckt und eine große positive Resonanz hervorgerufen. „Die arabischen Revolutionäre wollen deshalb das türkirsche Regierungsmodell“. Die Türkei habe somit eine neue Rolle in der Arabischen Welt gefunden. Möglicherweise wolle sie jetzt gar nicht mehr nach Europa, was Europa vielleicht irgendwann einmal leid tue, weil die Verbindungsbrücke in die Arabische Welt fehle.